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Liebe Hörerin, lieber Hörer,

nur noch selten liest man heutzutage in den Nachrichten über verschollene Mitglieder einer Abenteuerexpedition oder von auf dem Ozean verschwundenen Angehörigen einer Schiffsbesatzung. Robert Falcon Scott fällt uns ein, der beim Versuch, den Südpol als Erster zu erreichen, mit vier Begleitern erfror. Wir kennen das Floß der Medusa, auf dem sich die Schiffbrüchigen gegenseitig auffraßen, um zu überleben.

Oder wir denken an die bemitleidenswerten Matrosen der „Endurance“, die unter einem umgedrehten Rettungsboot mehrere Wintermonate auf der fast vollständig vergletscherten Elephanteninsel im Südpolarmeer auf die Rückkehr Shackletons und ihre Rettung warteten. Kaum jemand vermag sich die Strapazen und die Unbill jener Menschen vorzustellen. Nun jedoch, da wir dieses Album der Lost Crewmen in den Händen halten, können wir erahnen, wie sie klingen könnten. Diese Aufnahme ist ein großer, schwarzer Monolith der improvisierten Musik. „Is that Jazz?“ fragte Gil Scott-Heron 1984. Nun, nicht alles, was wir nicht verstehen, muss automatisch Jazz sein.

Wenig ist bekannt über die beiden Musiker der Lost Crewmen, immerhin sind sie, nun ja, verschollen. 1970 spielten sie bei einem Musiker-Casting der Band of Gypsies vor. Leider suchten Jimi Hendrix und Buddy Miles einen Bassisten, zeigten sich aber durchaus angetan. 1973 befand Miles Davis :“My ego only needs a good rhythm section.“ und er spielte einige Proben mit den Lost Crewmen. Unglücklicherweise brach er sich bei einem Autounfall den Knöchel und kurz darauf den Kontakt ab. Seither verliert sich die Spur der Lost Crewmen im Schnee. Auch Miles Davis verschwand danach im Schnee, wenn auch auf andere Art und Weise.

Dieses unerwartete Lebenszeichen der Lost Crewmen entführt uns an den Ort, an den sie entschwunden sind: ein kalter, düsterer und trostloser Ort, die Arktis, ein toter Krater, eine schwarze Wüste auf einem unbewohnten Planeten oder eine Station der U-Bahnlinie 8 in Berlin. Schon bei den ersten Minuten dieses Tondokuments werden die Zehen brandig. Wir finden uns orientierunglos in vollkommener Dunkelheit wieder, gigantische eiskalte Wellen erfassen uns, mal zieht uns ein Mahlstrom hinab in die Tiefen des Meeres, mal wähnen wir uns auf der Flucht vor dem mordenden weißen Wal, dem Leviathan, Moby Dick. Es gibt kein Entkommen vor dieser Musik. Im Roman „Moby Dick“ äußert sich der Walfänger Ishmael über seine Profession: “A noble craft, but somehow a most melancholy! All noble things are touched with that.” In der Tat, eine noble Schwermut geht von diesen Klängen aus.

Aber es gibt auch Zärtlichkeit, ja, Zärtlichkeit und Trost, Licht und Hoffnung. Und manchmal möchte man gar tanzen, wenn auch lieber allein. (Auch die Matrosen auf der Elephanteninsel unter ihrem Rettungsboot fanden Hoffnung in der Musik, veranstalteten sie doch jeden Samstag ein Konzert mit dem Banjo.)

Neben all dieser emotionalen Wucht beeindruckt auch die von keinerlei Klischee berührte Art der Improvisaton. Hier spielen zwei Musiker als Einheit, auf übertriebene Sportlichkeit an den Instrumenten wird verzichtet, vermutlich eine Lehre aus der Isolation; die Lost Crewmen sparen ihre Ressourcen (wie verschollene Matrosen ihr Pinguinfleisch) um sie dann zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Eine beeindruckende Virtuosität, die sich vielleicht nur durch ihre Biographie erklären lässt.

Es bleibt der Wunsch, die Lost Crewmen ab jetzt häufiger zu erleben, wenn sie uns erzählen von ihrer dunklen und kalten und strahlenden Welt.

Till Kober, 4. September 2018, 15:13 Uhr

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Bei Interesse an der Lost-Crewmen LP “I Know The Place Where Damo Kauasaqui lives” (Live-Aufnahme aus dem Theater im Pumpenhaus, Münster) oder einem Auftritt bitte per E-Mail melden!